Experten geben Rat: Risikokommunikation – Fakten benennen, Verwirrungen vermeiden

Interview mit Prof. Dr. Ortwin Renn, Leiter der Abteilung Technik- und Umweltsoziologie des Instituts für Sozialwissenschaften und Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) der Universität Stuttgart

Experten geben Rat: Risikokommunikation – Fakten benennen, Verwirrungen vermeiden

Professor Dr. Ortwin Renn ist Leiter der Abteilung Technik- und Umweltsoziologie des Instituts für Sozialwissenschaften und Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) der Universität Stuttgart.

haut.de: In den Medien machen wiederholt „Kampagnen“ auf sich aufmerksam, die mit Serviceleistungen und Tests auf „Gefährdungspotenziale für Verbraucher“ hinweisen. Ist dies nach Ihrem Verständnis „notwendige Risikokommunikation“ oder trägt dies mitunter auch zur „Verunsicherung/Verwirrung“ von Verbrauchern bei?

Prof. Renn: Nach meiner Einschätzung sind solche Kampagnen oder Websites, die mit einem beabsichtigten „Sensationscharakter“ agieren, durchaus angetan, beim Verbraucher für Verwirrung zu sorgen und eben nicht zur tatsächlichen Risikoabwägung durch Konsumenten beizutragen. Oft entbehren die dort getroffenen Aussagen bzw. Warnungen einer wissenschaftlich korrekten Herangehensweise. Eine „ehrliche Risiko-Kommunikation“ kann nach meiner Auffassung nicht auf die Unterscheidung zwischen „Hazard“ (Gefahr) und „Risiko“ verzichten. Mit „Hazard“ (Gefahr) wird aus wissenschaftlicher Sicht eine bestimmte Stoffeigenschaft beschrieben, für die ein Gefährdungspotenzial gilt. Bei der Abwägung von „Risiken“ sind allerdings über die Stoffeigenschaften hinaus weitere Kriterien wie Dosis-Wirkung, Wahrscheinlichkeit einer Schädigung und Exposition, also ob der Stoff überhaupt in den Stoffwechselkreislauf gelangt, zu berücksichtigen. Das Risiko bestimmt den beobachtbaren Schaden, nicht das Gefährdungspotenzial. Wir kennen aber das Phänomen der menschlichen Wahrnehmung, dass für alles, was an oder in den menschlichen Körper gelangen kann, sei es Lebensmittel, Kosmetik oder auch Spielzeug, eine erhöhte „Sensibilität“ besteht, also Menschen gelegentlich auf bestimmte „Risiko-Botschaften“ in besonderem Maße verwirrt oder verängstigt reagieren.

haut.de: Wie müsste nach Ihrer Einschätzung eine „ehrliche Risikokommunikation“, in der Verbraucher befähigt werden, Risiken abzuwägen, gestaltet sein?

Prof. Renn: Bei den eben erwähnten Produkten oder Stoffen, die nah an den menschlichen Körper gelangen oder sogar in ihn, so eben auch kosmetischen Produkten, treten immer wieder Fragen nach hormonellen Wirkungen, nach toxischen Effekten oder auch karzinogenen Risiken auf. Also Stoffe, die unsere Gesundheit gefährden oder krebserregend sein können. Dabei wird aber oft nur die „Stoffeigenschaft“ betrachtet und nur in ganz geringem Umfang die tatsächlich bestehende Wahrscheinlichkeit einer gesundheitlichen Gefährdung. Wenn für einen bestimmten Stoff ein Gefährdungspotenzial wissenschaftlich bekannt ist, kommt es bei der Risikobewertung aber immer auch auf die Dosis an. Also vor allem auf die Frage, in welcher Konzentration ist der Stoff in dem Produkt vorhanden und ab welchem „Schwellenwert“ ein tatsächliches Risiko besteht. Ab wann ist eine „Überdosis“ erreicht?
In der Risikokommunikation ist es hilfreich, wenn dieser mitunter komplizierte Prozess des Abwägens mit alltäglichen Ereignissen verdeutlicht wird. Ein Beispiel ist der Umgang mit Alkohol, auch hier tritt die Gefahr mit dem übermäßigen Konsum ein. Aber auch beim Umgang mit der Sonne besteht durchaus Erfahrungswissen bei den Menschen. Wer einen Sonnenbrand schmerzhaft erträgt, weiß ab diesem Moment, dass die Dosis der Sonnenstrahlung wohl zu hoch war. Sonnenlicht an sich hat aber durchaus positive Wirkungen für Mensch und Umwelt.
Erschwerend für die Kommunikation kommt dazu, dass bei gentoxischen Stoffen in der Regel kein Schwellenwert existiert, aber die Wahrscheinlichkeit, zu Schaden zu kommen, bei niedrigen Dosen extrem gering, wenn auch nicht Null ist. Das ist nicht einfach zu kommunizieren, aber wer nur das Gefährdungspotenzial vermittelt, macht es sich zu leicht und führt die Verbraucherinnen und Verbraucher in die Irre. Im Rahmen von Risikokommunikation halte ich Glaubwürdigkeit für wichtig. Dabei sollten „Gefahren“, wo auch immer kommuniziert, sei im Internet oder via APPs, ernst genommen und offen angesprochen werden. Zu jeder Debatte um Gefährdungspotenziale gehören auch Fakten, die benannt werden sollten. Denn so mancher „verunsicherte Verbraucher“ möchte sich „schlau machen“ und „vergewissern“, ob die Warnungen auch Substanz haben. Bei der entsprechenden Faktensuche, die ja heute meist via Internet umgesetzt wird, können „ehrliche Informationen“ einen wichtigen Beitrag zu einer fachlich fundierten und ausgewogenen Risikoabwägung leisten.

haut.de: Bei „haut.de“ gehen zunehmend Verbraucheranfragen ein, die sich auf Inhaltsstoffe kosmetischer Mittel beziehen, denen eine „gesundheitliche Gefährdung“ unterstellt wird, z.B. durch Fluorid in Zahnpasten oder „krebserzeugende Stoffe“. Wie sehen Sie das Risiko bei der Anwendung kosmetischer Mittel?

Prof. Renn: In regelmäßigen Studien untersuchen wir „statistische Risikodaten“, um Gefährdungen zu erkennen. Hinsichtlich kosmetischer Mittel sind aus den statistischen Übersichten keine Gefährdungen für die Gesundheit oder Erkrankungen bekannt, die Anlass zu einem sofortigen Handlungsbedarf gäben. In diesen Risikodaten finden wir allerdings Hinweise auf Unverträglichkeiten oder allergische Reaktionen, deren Ursachen dann zunächst einmal zu erforschen sind. Gleichzeitig ist es aber auch erforderlich, mögliche Alternativen für die Inhaltsstoffe, von denen ein allergenes Potenzial ausgeht, zu entwickeln oder die Konzentrationen weiter abzuschwächen, sofern das möglich ist. Betroffene, die wissen, auf welche Inhaltstoffe sie allergisch reagieren, finden in der Angabe der Inhaltsstoffe auf den Verpackungen wichtige Hinweise, um den Stoff zu meiden, eben ein individuelles Risiko-Management durchzuführen. Dies gehört zu einer „transparenten Risikokommunikation“ dazu.

haut.de: Gegenüber konventionellen Produkten der Körperpflege wird von Angeboten aus dem Bereich „Naturkosmetik“ ein geringeres Risiko bei der Anwendung erwartet. Ist diese Haltung aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

Prof. Renn: Auch dies ist ein Phänomen der menschlichen Wahrnehmung. Der Begriff „Natur“ suggeriert etwas völlig „Ungefährliches“. Aber das gilt nicht für jeden Stoff in der Natur: viele Pflanzen wehren sich mit Giftstoffen gegen die Gefahr, gefressen zu werden. „Natürlich“ kann also höchst risikoreich sein. Auf die Inhaltsstoffe kommt es also an. Bei einer erhöhten Sensibilität des Konsumenten können auch ansonsten völlig harmlose „natürliche Inhaltsstoffe“ mit einem Risiko verbunden sein. Denken Sie zum Beispiel an „Nüsse oder Erdnüsse“ im Lebensmittelbereich. Im Bereich der Körperpflegeprodukte ist es mitunter sogar vernünftig, Naturstoffe synthetisch nachzubilden, um die natürliche Konzentration unerwünschter Komponenten zu verringern. Auch in diesem Bereich gilt es meines Erachtens, durch stete Verbraucherkommunikation ein angemessenes Verständnis der Verbraucherinnen und Verbraucher über das, was sie gefährdet und was nicht, zu erreichen.

Erklärungen zu Inhaltsstoffen von kosmetischen Produkten und weitere Informationen finden Sie auf haut.de in der INCI-Datenbank: www.haut.de/service/inci

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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Buchhinweis: Ortwin Renn: „Das Risikoparadox – Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main
Prof. Ortwin Renn hat mit der Publikation einen neuen Beitrag zur Debatte um Risiken vorgelegt. Das Buch zielt auf die Charakterisierung der Risiken des modernen Lebens in Deutschland und zeigt Differenzen zwischen Risikohöhe und Risikowahrnehmung auf.

Quelle: haut.de

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